Manche Leute stehen auf „Horror-Spiele“, andere nicht. Geschmäcker sind verschieden, und das ist gut so.
Ich gebe zu, dass ich „Horror-Spiele mag. Neben Fantasy und Science Fiction ist mir das Horror-Thema eines der liebsten. Ich kann gut verstehen, dass manche Spieler kein Vergnügen an diesem speziellen Genre haben oder einerseits zwar Spiele mit leichtem Gruselfaktor o.k. finden, andererseits aber der Meinung sind, dass einige der aktuelleren Spiele deutlich zu weit gehen. Sie finden den Anblick von garstigen Minis, blutigen Standees und Innereien auf dem Spielbrett einfach nur scheußlich sind auch nicht willens, sich so etwas einen ganzen Spieleabend lang anzusehen. Letzten Endes soll ein Spiel Freude machen. Tod, Verwesung und Degeneration nicht gerade spaßig zu finden ist eine vernünftige und gesunde Reaktion. Deshalb ist es auch völlig falsch, andere unbedingt gegen ihre Empfindungen in das Horror-Genre hineinzudrängen oder sie gar – mit erpresserischen Absichten – als Weicheier zu verspotten.
Ist es also irgendwie schräg, Spaß an Horror-Spielen zu haben? Die Antwort ist… kompliziert.
Ich mag Spiele mit übernatürlichen oder Fantasy-Themen, wo man Gespenstern, mythologischen Charakteren, Fabelwesen oder Gestalten begegnet, wie sie z.B. im Werk von H. P. Lovecraft vorkommen. Wenn man mir ein Cthulhu-T-Shirt schenkt, werde ich es tragen. Das heißt nicht unbedingt, dass ich mir selber eines kaufen würde.
„Flavour“ – das gesamte nicht zur Spielmechanik gehörende Drumherum – ist nicht alles, wie manchmal behauptet wird, aber es bestimmt das Spielerlebnis doch entscheidend mit. Es gibt „story driven games”, also solche, die einem bestimmten Erzählstrang folgen, aber es gibt auch Spiele mit Hintergrundgeschichten, wie man sie oft als Einleitungen in Regel-büchern findet und die dazu dienen, Stimmung zu erzeugen, ohne dass sie direkt in die Ereignisse auf dem Spielbrett eingreifen. Sie nehmen aber deutlich Einfluss auf die Einstellungen der Spieler zum Geschehen.
Ich habe Vergnügen an Spielen, deren Faszination sich im gedämpften, flackernden Licht der Gaslaternen des 19. Jahrhunderts entfaltet, und die auf diese Weise den Schatten einer Vergangenheit projizieren, als die Naturwissenschaft noch kaum den Ruf der Scharlatanerie abgelegt hatte und die Trennlinie zwischen Fakten, Aberglauben und Einbildung dünner und durchlässiger war als heutzutage. Solche Spiele geben dem Erlebnis eine historische Komponente, sodass man einiges darüber erfahren kann, wie sich die Weltsicht des 21. Jahrhunderts von der Vorstellungswelt unserer direkten Vorfahren unterscheidet.
Es gibt auch Horror-Spiele, die ich gar nicht erst in die Hand nehmen würde, weil sie sich ausschließlich auf das Horror-Thema als solches konzentrieren, ohne dabei den geringsten Versuch zu machen, einen plausiblen Hintergrund für das Geschehen auf dem Spielbrett zu entwerfen. Sie erinnern mich an Spielfilme, bei denen eine dünne Handlung nur als fadenscheinige Ausrede dient, einen haarsträubenden Special-Effekt an den anderen zu reihen.
Spiele wie z.B. The Others sind ein völlig anderes Kaliber. In The Others stellt man sich im entscheidenden Gefecht den leibhaftigen Todsünden entgegen, dargestellt in wahrlich grauenhaften, abscheulichen Kunstwerken von meisterlicher Qualität. Da hilft kein vorsichtiges Draufschielen von der Seite: Ein einziger kurzer Blick – und das Bild hat sich auf immer und ewig ins Gedächtnis gebrannt. Und dann sind da noch jene Übelkeit erregenden Mutanten, korrumpiert durch den Einfluss des (un)reinen Bösen. Der Punkt ist, dass man sie auch gar nicht mögen soll. Es geht darum sie so abstoßend und hassenswert zu finden wie möglich.
Und genau das ist es, was ich an The Others so schätze: Das Böse wird in keinster Weise romantisiert. Man kann der Anziehungskraft eines Vampirs verfallen, eine morbide Sympathie für Werwölfe entwickeln und sich sogar noch mit einem zombifizierten Lieschen Müller und Max Mustermann identifizieren, aber meiner Überzeugung nach ist es menschlich unmöglich, angesichts der Verkörperungen des Bösen in The Others etwas anderes zu verspüren als Ekel und Abscheu. Und so ist es auch richtig. Das Böse bekommt seinen angemessenen Platz zugewiesen. Seine wahre Natur wird aufgedeckt, wo immer es sein hässliches Haupt erhebt. Das Übel, das in ein korrumpiertes menschliches Individuum eindringt oder bereits aus ihm heraus wirkt, ist dargestellt als etwas, das dieses seiner Menschlichkeit beraubt oder sie zumindest bis zur Unkenntlichkeit deformiert.
Eine Randbemerkung, sozusagen zwischen den Zeilen gesprochen: Es muss für jeden Künstler eine enorme Herausforderung darstellen, ein Kunstwerk zu erschaffen, dessen Anblick und Bedeutung die Betrachter instinktiv abstößt und sie gleichzeitig dazu bringt, es für seine künstlerische Qualität zu schätzen und zu bewundern. Das allein macht The Others in meinen Augen einzigartig. Aber da ist noch mehr.
Einige der spielbaren Heldenfiguren wären in ziemlich jedem anderen Brettspiel die Monstren, die es zu besiegen gilt. Da gibt es zum Beispiel den riesigen bleichen und gehörnten Koloss namens Thorley und seine genetische Halbschwester Rose, die beide nicht gerade dem üblichen Schönheitsideal entsprechen. Eher im Gegenteil. Roses Tentakeln, die aus ihren Ellenbogen sprießen, jagen mir einen Schauder über den Rücken, und das erst recht, wenn diese Fortsätze Köpfe ausbilden und ein Eigenleben entwickeln. Die dafür verantwortlichen Gene stammen direkt von den „Others”, aber Rose kann diese todbringenden Mutationen ihrerseits auch als ihre ur-eigenste Waffe gerade gegen die „Others“ benutzen. Andere spielbare Charaktere warten gar mit psychischen Deformationen auf.
Solche Charaktere zu spielen und sich mit ihnen zu identifizieren ist nicht einfach. Das Spiel wird abgelehnt, weil die Leute etwas dagegen haben, „Monster” zu spielen, und weil ihnen die Trennlinie zwischen Gut und Böse zu verschwommen vorkommt. Sie würden sie lieber bekämpfen als sich mit ihnen zu identifizieren. Und es stimmt ja auch: Der Gedanke mit ihnen auf Tuchfühlung zu gehen macht einem durchaus Gänsehaut. Allerdings ist dies im größeren Zusammenhang zu sehen: In der Gegenwart einer der Todsünden möchte man im Vergleich dazu nur noch die Augen verschließen, sich in einer Ecke zusammenkauern und vergehen. Wie auch immer man zu diesen „Helden“ stehen mag, der springende Punkt ist: Sie sind gerade noch menschlich genug, dass man die Vorstellung akzeptiert, sie könnten Seite an Seite mit uns kämpfen und der Menschheit in dieser Bedrohung beistehen. Ab hier wird’s philosophisch.
Diese „Monster”, welche man im Spiel als Helden einsetzt, sind wirkliche Kostbarkeiten. Es ist allzu leicht, ihre wahren Qualitäten zu übersehen, wenn man das Spiel auf den Tisch bringt und sich nur auf die Spielmechanik und die bloßen Daten und Werte auf den Charakterkarten konzentriert.
Es ist schade, dass die meisten Spieler nicht in den Genuss der wunderbar geschriebenen Hintergrund-Stories kommen, die das Spiel illustrieren sollen: Die Kickstarter-Ausgabe enthält ein Artbook, das einen sehr facettenreichen Einblick in das Gesamtkonzept des Spieles The Others und seiner Kreaturen entfaltet. Darunter finden sich literarische Erzählungen, in denen man näher mit seinen spielbaren Charakteren vertraut wird, besonders mit den nicht ganz menschlichen. Zugegeben, gerade mit solchen Charakteren hatte ich anfangs auch meine Probleme. Aber diese Kunstgeschöpfe sind weit mehr als Plastik mit Lebenspunkten.
Das erste, was man über sie erfährt: Ihre DNA ist teils menschlich, teils DNA der „Others“. Sie sind dadurch physisch „korrumpiert” bis zu einem Grad, in dem ein Spieler eine starke Abneigung dagegen empfindet, sich mit ihnen zu befassen. Sie sind keine Helden wie Superman, selbst wenn sie übermenschliche Kräfte entwickeln wie Thorleys phänomenale Kraft oder Roses Fähigkeit, willkürlich die Zeit zu verlangsamen, wenn sie sich bewegt. Sie wurden von den Agenten des Bösen genetisch designed um in unserer Welt Dimensions-Tore für die „Others” zu öffnen. Stattdessen schrecken sie instinktiv zurück als sie ihre Schöpfer das erste Mal erblicken. Sie ergreifen zusammen die Flucht, helfen und beschützen einander so gut es eben geht. Und sie versuchen auch all jene zu beschützen, die schwächer sind und ihnen offen und freundlich begegnen, und das bis hin zur Selbstaufgabe. Sie kamen körperlich voll entwickelt auf die Welt, abgesehen davon sind sie aber praktisch noch unreife, pubertierende Kinder, die sich mit bisher ungekannten verwirrenden Empfindungen herumschlagen, die Welt der Erwachsenen zu begreifen versuchen und gerade erst beginnen, ihre eigenen Fähigkeiten und Kräfte zu erkunden. Sie leiden unter ihrer jeweiligen Andersartigkeit in genau der gleichen Weise wie z.B. der Incredible Hulk. Selbst menschliche Gebrechen sind ihnen nicht fremd: Thorley braucht eine Lesebrille. Zum Lesen.
Sie identifizieren sich mit ihrer menschlichen Abstammung und empfinden Abscheu vor den „Others” genau wie wir auch. Sie lieben Seifenopern, verdrücken mit Vorliebe Fish & Chips, mögen Brettspiele – Thorley spielt leidenschaftlich gern Schach! – und gehen in die Kneipe an der Ecke, weil sie dort normale Leute treffen können. (Oder weil dort Bier und Schnaps ausgeschenkt werden? Weit gefehlt! Sie sind doch noch Kinder!) Sie sehnen sich nach nichts so sehr wie nach einem „normalen Leben“, und dabei haben sie eine recht naive Vorstellung, was das eigentlich ist: Ihr ganzes Wissen stammt aus Bruchstücken von Fernsehsendungen, die sie im Laufe ihrer Flucht aufgeschnappt haben. Sie leiden darunter, anders zu sein, und verbergen ihre körperlichen Absonderlichkeiten unter Kapuzen oder langen Ärmeln, um nicht aufzufallen und ihre „Mitmenschen“ nicht zu verstören oder zu ängstigen.
Als Zeugen der völligen Vernichtung, welche die „Others” über die Kleinstadt Haven gebracht haben, fühlen Thorley and Rose plötzlich tiefes Mitleid mit all den „armen Menschen“ und beschließen, sich dem Widerstand anschließen, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt. Sie haben einen gemeinsamen Feind, und sie fühlen sich zu den schwächeren Menschen ebenso hingezogen wie von den „Others“ abgestoßen. Es ist eine rationale, „aufgeklärte” Reaktion auf die unmittelbare Erfahrung von Verderbtheit, Gewalt und Zerstörung, und folgt völlig dem Kategorischen Imperativ des großen Philosophen Immanuel Kant. Die „Others” aufzuhalten und die Menschheit vor ihnen zu schützen wird ihnen zum Selbstzweck.
Ich zitiere hier nach der englischen Ausgabe von Wikipedia: „Nach Kant haben Menschen eine Sonderstellung innerhalb der Natur inne, und der Grundsatz ihrer Sittlichkeit kann in einem Imperativ, einem ultimativen Gebot der reinen Vernunft, zusammengefasst werden, von welchem sich alle Pflichten und alle Verantwortung ableiten. Er definiert einen Imperativ als jede Art von Gebot, welches eine bestimmte Handlung (oder Nicht-Handlung) für unbedingt notwendig erklärt.“ Man könnte sagen, das macht Thorley und seine Schwester wirklich menschlich, und zwar ihrem inneren Wesen nach, ungeachtet ihrer Biologie: Sich mit den „Others” zu verbünden ist für sie schlicht keine Option, denn das Böse mit all seiner Zerstörung erscheint ihnen sinnlos und unvernünftig. Sie handeln ganz nach Kants oft zitiertem Kategorischen Imperativ: “Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Dass sie dabei sogar bereit sind, ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen, zeigt eine solche Abstraktheit und Reinheit ihrer Motive, dass man verblüfft ist, dergleichen in einem bloßen Brettspiel-Kosmos anzutreffen. Das macht sie noch nicht zu Heiligenfiguren: Sie finden sich schlichtweg nicht damit ab, einfach benutzt und nach Gebrauch entsorgt zu werden. Sie wollen als Individuen mit eigenem Willen, Gewissen und Würde behandelt werden. Und dennoch haftet ihnen unleugbar eine moralische Bedeutung an: Sie sind, den meisten Definitionen des Begriffs zu Folge, Beispiele für das (machbare) Gute.
Hatten die Spielentwickler wirklich Kant im Sinn? Wollten sie eine philosophische Lektion in ein Brettspiel verpacken? Sicher nicht. (Obwohl – zutrauen würde ich es ihnen schon.) Aber sie existieren in einem kulturellen Umfeld in dem, lange nach Kant und seinen Zeitgenossen, die Philosophie der Aufklärung noch gegenwärtig und wirkkräftig ist. Alles in allem finde ich dies doch ziemlich beruhigend.
Es wird Zeit eine frühere Aussage neu zu formulieren: Solche Charaktere zu spielen und sich mit ihnen zu identifizieren ist nicht einfach, aber es ist eine Übung in Toleranz. Man lernt diese Charaktere zu akzeptieren wie sie sind, ungeachtet ihrer Abstammung, ihrer Monstrositäten, Beschränktheiten und Abweichungen, und zwar auf Grund ihrer Einstellungen und tatsächlichen Handlungen. Wir werden selbst zu besseren Menschen, indem wir ihnen gegenüber Menschlichkeit üben.
Aber Moment mal – über was reden wir hier eigentlich? Das sind doch keine echten Personen. Sie sind doch bloß Figuren in einem Brettspiel. Schon richtig – aber warum haben wir dann überhaupt solche Empfindlichkeiten, wenn es darum geht, eine davon zu spielen? Weil wir uns nun mal mit unserem Charakter im Spiel identifizieren.
Wir wollen in einem Spiel, welches das Monströse so ernst nimmt, kein Monster sein. Wir wollen ganz und gar Mensch sein, und genau das ist der Hintergrund dieser “monströsen” halb-menschlichen Charaktere, ob dies nun ausdrücklich gewollt ist oder nicht. Wir sind uns bewusst, dass der eigene Charakter nicht rein und frei von jeder Bosheit und Verderbtheit ist. Im wirklichen Leben müssen wir uns ständig mit dem auseinandersetzten, was zum Beispiel im christlichen Sprachgebrauch die „Erbsünde” genannt wird, etwas das uns „angeboren“ ist, in unserer Natur liegt, und das wir erst überwinden müssen um zu dem zu werden, von dem unsere jeweilige Religion oder Philosophie uns sagt, es sei unsere eigentliche Bestimmung und Vollendung.
Das Spiel The Others zeigt uns auch, wie schwierig es ist, unsere eigenen Schwächen zu überwinden, wieviel leichter es ist, sich der Hoffnungslosigkeit zu ergeben, wie verlockend, den einfacheren Weg zu gehen und den Versuchungen der „anderen Seite“ zu erliegen. Es zeigt uns wie schwer es ist, wirklich wichtige Entscheidungen zu treffen: Wir hätten gar keine Chance, wenn wir darauf angewiesen wären perfekt und völlig „rein“ zu sein um “Erlösung” zu erlangen – um in der christlichen Terminologie zu bleiben – und wenn es keine Nachsicht und Vergebung für uns gäbe.
Wie dem auch sei – die Rolle des „Sin player“ in The Others zu übernehmen ist eine schwere Bürde. Eine Todsünde und deren Figur zu spielen ist eine Aufgabe, die nur wenige Spieler ohne weiteres auf sich nehmen möchten. Niemand hat Spaß daran, sich mit einer der „Sins“ zu identifizieren. Deshalb ist dieses Spiel nicht ohne weiteres für jede Spielgruppe geeignet. Um eine Todsünde zu spielen muss man sich strikt an das Regelbuch halten und kann sich nicht einfach entspannt zurücklehnen und den Spielfluss genießen. Man muss eine gesunde Distanz zu seiner Sin-Figur aufrechterhalten. Es gibt da eine feine Linie, welche es nicht zu überschreiten gilt. Ein Sin-Spieler zu sein ist ein Schritt, zu dem ich persönlich nicht bereit wäre, aber eine Person aus der Spielgruppe muss diesen Part zwangsläufig annehmen, und dies sehe ich als durchaus problematisch. Daher kann ich nach wie vor jeden gut verstehen, der keinerlei Begeisterung für The Others entwickelt und nicht mitspielen möchte.