VALHAL – von Freud und Leid des Wikingerlebens

Schon mal nach einer ausgelassenen Feier mit brummendem Schädel aufgewacht, sich verwundert umgeschaut und diagnostiziert: Filmriss total? Wer zu solch Extremerlebnissen neigt, kann sich vielleicht in die Rolle der Helden dieses historischen Zivilisations-Brettspiels hineinversetzen. Alle anderen müssen der Phantasie ihren Lauf lassen, denn das Game VALHAL handelt, wie der Name unschwer vermuten lässt, von Wikingern. Richtigen. In  VALHAL  geht es um das realistische Dasein als Wikinger, wobei auch religiöse Vorstellungen der Nordmänner eine bedeutende Rolle spielen. Aber Ragnarök hat noch Zeit. Vorerst geht es darum, ein echter Wikinger zu sein, der sich nach seinem Tod mit dem Schwert in der Hand ruhmreich in die Reihe der Met trinkenden Helden Walhalls einreiht. Das ist das hehre und einzige Ziel jedes echten Wikingerdaseins! Nur dass die Kombination von reichlich Met und echter Vorfreude auf das heldische Nachleben manchmal zu unvorhergesehenen Komplikationen führt…

Die Wikinger von Fjörnheim, einer fiktiven Insel im hohen Norden, wachen eines unheilvollen Morgens mit besagtem Brummschädel, Rest-Met im Blut und erheblichen Gedächtnislücken bezüglich der Details des vergangenen Abends auf und müssen feststellen, dass sie offenbar „versehentlich“ für ihr Lagerfeuerchen einen heiligen Baum umgeholzt haben. Die eigentlichen Eigner, die Götter Asgards, sind, sagen wir einmal: ein wenig verstimmt. Als die Sicht der Zecher sich langsam klärt, sehen sie sich Rattatöskr, dem Götterboten, gegenüber:  Kurzerhand wird den noch immer verkaterten Nordmännern jede Zugangsberechtigung zur Valhal in Asgard entzogen. Schlimmer kann es einen Wikinger nicht treffen-!

Das Thema, kurz gefasst:

In diesem Zivilisationsbauer  – bis ins letzte Detail historisch korrekt interpretiert –  welcher zu Beginn der Wikinger-Ära spielt,  schlüpft man in die verantwortungsvollen Rollen der Jarls von  Fjörnheim. Unter der Leitung ihres jeweiligen Jarls müssen die Nordmänner durch Eifer, gute Planung und Ausstattung ihrer Dörfer und vor allem durch heldenhafte Taten – sprich erfolg-/beutereiche Vikingfahrten – die Gunst der Götter allmählich zurück gewinnen, damit sie nach ihrem ruhmreichen Ableben doch wieder nach Asgard und die Valhal dürfen.

Ein paar grundlegende Daten:

  • Herausgeber:  Tetrahedron-Games 2018 (Copyright 2017)
  • Designer: Martin Otzmann und Mario Arthur
  • Artwork: Nele Diel
  • Spielerzahl: 2 – 4
  • Alter: 10+
  • Spieldauer: 90 – 120 Minuten
  • Setup-Time: ca. 12 Minuten
  • Schachtelformat:  quadratische Box (23,5 x 23,5 x 6,5 cm)

Eine riesige Menge an Spiel-Zeug in der Schachtel:

  •  1 Rundenmarker, der in der Mitte des zentralen Spielbretts („Das Festland“) die jeweilig aktuelle Jahreszeit anzeigt; die Box enthält sogar noch 3 weitere Rundenmarker als Ersatz
  • 4 Anzeigen für die Gunst der Götter (1 pro Spieler)
  • 4 Rabenkopf-Token in den Spielerfarben, welche auf den Anzeigern den Fortschritt in der Gunst der Götter anzeigen (1 pro Spieler)
  • 7 Erfolgstoken (die einem Boni sichern, wenn man vor allen anderen bestimmte Zielvorgaben erreicht hat)
  • 8 Merkhilfe-Token (mit den Seiten „Frühling & Gesperrt“ und “Sommer & Winter“)
  • 16 Nahrungstoken
  • 16 Bautoken:   8 Holztoken
      8 Eisentoken
  • 80 Münzen
  • 5 Spielfelder:  4 Spielfelder mit dem jeweiligen Wikinger-Dorf des Spielers, auf dem man baut, Krieger ausbildet und seine Ressourcen verwaltet)
  • 1 zentrales Spielbrett, „Das Festland“, auf welches die Zielorte der Beutezüge ausgelegt werden
  • 72 Einheitskarten: 28 Einheiten Nordische Krieger  
      20 Einheiten Nordische Veteranen (die Elite-Krieger) und
      24 Langboote (die berühmten Drachenschiffe der Wikinger)
  • 16 Gebäudekarten: 4 Trockenkammern (bringen Vorteile beim Schiffsbau)   4 Schmieden (bringen Vorteile beim Ausbilden von Kriegern und sind Bedingung für die Ausbildung zu Veteranen)
    4 Vorratslager (optimieren die Nahrungsmittelversorgung im Winter)
    4 Opferstätten (verschaffen mehr „Wohlwollen der Götter“-Karten)
  • 24 Städtekarten (von unbefestigten kleinen Dörfern bis zu stark befestigten Städten mit Entsatztruppen)
  • 149 Spielkarten: 50 Ereigniskarten
      30 Wohlwollen der Götter Karten
      30 Zorn der Götter Karten
      15 Kleine Beutekarten
      10 Mittlere Beutekarten
      10 Große Beutekarten
  • 4 Kampftableaus
  • 20 Marker (verschiedenfarbige kleine Holzwürfel
  • 4 rote D6-Würfel
  • 20 weiße Spezial-Würfel (mit Werten von 1 bis 3, wobei jede Ziffer doppelt vorhanden ist)

Hört sich nach eine Unmenge Material an. Ist es auch. Man fragt sich:  Wie es möglich, so viel für einen so günstigen Preis zu bekommen. Es ist nicht nur die Menge, die verblüfft. Das Artwork ist ganz ausgezeichnet und die Qualität des Spielmaterials gut. Alle Komponenten sind leicht zu handhaben, übersichtlich und solide gestaltet.  Wir haben für solch einen günstigen Preis – und mehr! – schon schlappe Produkte mit einem Bruchteil an Komponenten wie solchen gesehen. Es ist verblüffend und sehr erfreulich, wieviel Spiel man dagegen bei VALHAL erhält.

Laut eigenen Aussagen sind die Macher selbst aber noch nicht zufrieden mit der Qualität aller Teile, besonders der Qualität einiger Karten, obwohl wir und all unsere Mitspieler mit den Komponenten in der vorliegenden Form zufrieden waren. Wer also plant, sich das Spiel in Zukunft zuzulegen, darf sich freuen: In der kommenden Neuauflage des Spiels mit anderen Produktionsbetrieben (bald auf Kickstarter) wird alles sogar noch besser!

Was hier  besonders beeindruckt, ist die Sorgfalt, mit der das Thema in Optik und Spielmechanik verwandelt wurde.  Man sieht nichts, das nicht kulturhistorisch korrekt recherchiert und umgesetzt wäre: keine, wirklich keine Anachronismen, Hörnerhelme oder anderer Unsinn in Sichtweite! Die Macher haben nicht einfach ein populäres Thema über einen Spielmechanismus gestülpt, nein, der Mechanismus erwächst organisch aus den Realitäten des Themas. Die nordische Kultur jener Ära wird ernst genommen. Selbst die gesamte Farbgebung des Spiels und seiner Komponenten bewegt sich im Rahmen ausschließlich solcher Pigmente, welche zur Zeit der Wikinger auch bereits zur Verfügung gestanden hätten. Wow! Das nennt man gründlich! Wer schrille Fantasy-Wikinger wie aus einschlägigen Comic-Strips erwartet, wird keine finden.  Er wird sie aber auch nicht vermissen! Valhal ist ein neues, frisches Spielerlebnis mit einer guten Mischung aus Regeln, Strategie und Glück  – ganz wie das richtige Leben. Wer sich dagegen ernsthaft für die „echten“ Nordmänner interessiert, kann mit VALHAL spielend einen Teil ihrer Lebenswelt  genießen. Wer weder das eine noch das andere erwartet, sondern „nur“ ein interessantes Spiel, das auch noch gut aussieht, wird ebenfalls nicht enttäuscht.

Die spielbaren Dörfer:

Es gibt vier gleiche Dörfer. Dies ist für jeden Spieler der eigentliche Spielplan, auf dem sich das Schicksal seiner Leute entscheidet; die dort erwirtschafteten Siegpunkte werden auf der Anzeige für die Gunst der Götter gezählt. Im Zentrum des Dorfes befindet sich der Jarlshof;  er dient als Ablage für Ressourcen. Dort werden (noch) nicht eingesetzte Münzen, Nahrungstoken und Baumittel (Holz, Erz) gesammelt. Für Nahrung gibt es eine Begrenzung: Man darf nicht mehr als vier Nahrungstoken besitzen. Schließlich gab es vor Erfindung von Dosenfutter und Gefrierschränken auch keine unbegrenzte Nahrung das ganze Jahr über. Man merkt: Hier wird schon mal was knapp…

Es gibt einen Schiffsbauplatz zum Bauen von Drachenschiffen, einen Ausbildungsplatz an dem man aus Bauern Seeleute als Besatzung machen kann, und einen Runenstein, an dem Gold oder Ruhm geopfert werden kann, um eine Gunst der Götter zu erlangen. Doch Vorsicht – Götter fühlen sich nicht an Regeln gebunden. Die erhaltene Gunst muss nicht zwangsläufig zum Vorteil gereichen.

Jedes Dorf hat zudem Bauplätze für Zusatzgebäude: jeweils eine Trockenkammer, eine Vorratskammer und eine Schmiede sowie eine bereits vorhandene Rüstkammer, für deren Betrieb man aber zunächst eine Schmiede benötigt, denn nur dann kann dort ein Schmied aus einfachen Seeleuten gut ausgestattete Krieger machen. Klingt logisch.

Es geht darum, möglichst rasch Gebäude fertigzustellen. Hierzu muss man Gold auf den Bauplatz legen und Nahrung für das Dorf bereitstellen. (Arbeiter müssen essen.) Ressourcen ermöglichen den Bau auch ohne Nahrungsmittel oder beschleunigen ihn. Die  fertigen Gebäude ermöglichen es dann, mit weniger Aufwand Schiffe zu bauen, Leute auszubilden oder auszurüsten oder (durch bessere Lagerhaltung) während des langen Winters über mehr Nahrungsmittel zu verfügen.

So spielt man:

Das Spiel besteht aus mehreren Runden, die sich während der drei (!)  Jahreszeiten (Sommer, Winter und Frühling) ereignen. Jeder Spieler besitzt zu Beginn ein Drachenschiff und eine Gruppe Besatzung sowie eine Einheit Nahrung, zwei Einheiten Eisen (jeweils durch entsprechende Token dargestellt) und drei Münzen.

Alles beginnt mit einer „Vikingfahrt“:

Eine Vikingfahrt kann nur im Sommer stattfinden. Das Spiel beginnt im Sommer, daher werden zunächst auf dem Festland die jeweils nach Spielerzahl festgelegte Anzahl unbefestigter Dörfer ausgelegt. Nun kann es losgehen!

Die angegriffenen Ortschaften sind leichte oder nicht so leichte Beute: Es gibt die unbefestigten Dörfer, aber auch schwer befestigte große Städte die sich mit Hilfe von Entsatz-Truppen in einer  zweiten Verteidigungswelle heftig ihrer Haut wehren. Das Dilemma: Einfache Ziele garantieren, dass man am Ende mit Beute, Mannschaft und einem intakten Schiff zurückkehrt, aber die kleinen Örtchen bieten natürlich nur weniges, das zu plündern lohnt. Bei befestigten Städten gibt es ordentlich einzusacken, es gibt Adelssöhnchen für die man saftige Lösegelder einstreichen kann, aber das Risiko ist dafür dann auch ganz erheblich. Eines steht jedoch fest: Wer auf ein sicheres Leben und gemütliche Mini-Überfälle auf Kleinbauern setzt, der hat am Ende selbst ein armseliges Dörfchen und nichts in den Taschen, über den werden keine Heldenlieder gesungen und die Tore Walhallas bleiben für immer zu. Man sollte also genau überlegen und vorausplanen, wenn man seine Ziele ansteuert.

Man wählt eines der ausgelegten Ziele, welches man überfallen und plündern will, sowie Schiff und  Mannschaft, welche man entsendet. Es kommt zum Kampf. Für eine erfolgreich geplünderte Ortschaft bekommt man die auf der Karte verzeichnete Beute: Gold, Ressourcen wie Nahrung, Holz oder Eisen, Lösegeld für Geiseln…

Das war’s,  der nächste Überfall eines anderen Spielers beginnt, bis alle ausgewählten Ziele angegriffen wurden. 

Das Kampfsystem:

Hat ein Schiff mehr als eine Mannschaft, muss man festlegen, welche zuerst angreift. Zwar werden die Angriffsboni zusammengerechnet, aber die Lebenspunkte addieren sich nicht. Alle Angriffsboni gelten im Kampf, aber nur die vordere Mannschaft erleidet Schaden. Verliert diese „Frontmannschaft“ alle Lebenspunkte und stirbt,  greift die verbleibende an, hat dann aber natürlich keine Boni mehr zu addieren. Das fühlt sich an, als habe man es wirklich mit Menschen zu tun, die in kleinen Gruppen als Teil eines Ganzen agieren, wenn auch nicht direkt mit einzelnen Individuen. Man erlebt dies deutlich anders, als wenn man „Mannschaft“ als eine einzige abstrakte Größe spielt.

Auch Städte haben Lebenspunkte und können sich schwach oder auch sehr gut gegen Angriffe wehren. Eine versuchte Plünderung kann also nicht nur erfolglos, sondern sogar vernichtend für die Angreifer enden! Was die räuberischen Seefahrer tun, wird hier als das dargestellt, was es war, mit allen Gefahren, Unwägbarkeiten und einem Ausgang, bei dem man möglicherweise eine unerwartet magere Beute mit dem Tod etlicher Männer bezahlt oder schlimmstenfalls sogar als Fischfutter endet.

Die gute Nachricht: Verliert die Mannschaft einmal alle Lebenspunkte, ist sie noch nicht tot, sondern gilt nur  als verletzt und es sinkt die Zahl der Lebenspunkte. Die schlechte Nachricht: Die verletzte Mannschaft ist nun natürlich schwächer. Wird sie erneut vernichtet, ist sie wirklich tot und wird aus dem Spiel entfernt. Stirbt auch die zweite Mannschaft und das Schiff ist ohne Besatzung, wird es aus dem Spiel entfernt. (Es bleibt an fremden Gestaden zurück und geht verloren.) Auch dies System trägt zum Realismus des Spiels bei.

Das sehr klare Kampfsystem ist einfach zu lernen und rasch auszuführen, der Erfolg wird durch kluge Auswahl der Ziele und die eigene Stärke des Angreifers beeinflusst, aber die Würfel tragen ein Element des Zufalls bei, das sehr gut die Unwägbarkeiten einer realen Vikingfahrt simuliert: Die Realität ist nicht völlig beherrschbar! Aber man kann durch gute Vorbereitung und kluge Entscheidungen die Wahrscheinlichkeiten zu eigenen Gunsten beeinflussen und dem Schlimmsten vorbeugen. Der Glücksfaktor sorgt für Spannung, aber man fühlt sich selbst bei Misserfolg nicht hilflos, denn das nächste Mal könnte einem das Glück ja lachen.

Auch hier gibt es eine gute Nachricht: Steht man einmal völlig ohne Schiffe und Besatzungen da, stellt das eigene Dorf dem Jarl  unverzüglich wieder ein Schiff samt Besatzung! Dieser Rettungsanker ist im eher seltenen Fall der Fälle nötig, damit alle Mitglieder der Spielrunde auch weiterhin Spaß miteinander haben, und darum geht es schließlich auch in einem gar nicht kooperativen Spiel. Wir finden diese einfache Lösung gut, weil es niemanden ausschließt und es kaum eine Unterbrechung im Spielfluss gibt.

Was im Winter und Frühling passiert:

Nach der Vikingfahrt besitzt man – hoffentlich – genügend Ressourcen um sich auf den nächsten Sommer vorzubereiten und sein Dorf weiterzuentwickeln.

Nahrungsmarker werden auf die Felder der Jahreszeiten gelegt. Diese können auch durch Münzen ersetzt, Nahrung sozusagen eingekauft werden. Nun geht es daran, mehr Leute anzuheuern, bestehende Mannschaften zu Veteranen auszubilden und auch eifrig zu bauen. Bauen ist sinnvoll, da die fertigen Gebäude, wie erwähnt, die o.g. Vorteile mit sich bringen. Auch ist es erstrebenswert, mehr Schiffe und Besatzungen zu haben: Die Ziele werden rasch schwieriger, denn die Gefahr von Überfällen von Wikingern in Langboten spricht sich herum. Man rüstet auf zur Verteidigung. Die Ortschaften können nun mit einem Bötchen und einer Handvoll Männer nicht mehr bezwungen werden.  

Der Eifer, den man in das eigene Dorf investiert, ähnelt der freudigen Aufregung, die man beim Kofferpacken für eine Weltreise verspüren würde. Das Dorf muss den Winter überstehen, die Fahrten des Sommers müssen gut vorbereitet werden, damit die Seemänner heil und mit Schätzen zurückkehren – was könnte wichtiger sein? Nichts, absolut nichts von dem, was hier passiert, wird ohne Folgen bleiben. Tatsächlich ist dies eine sehr rege und temporeiche Phase in VALHAL.

Wie man gewinnt – oder verliert:

Man gewinnt, indem man die meisten Siegpunkte erringt und mit ihnen als erste(r) auf der Anzeige der Gunst der Götter das offene Tor zu  Asgard erreicht. 

Das Spielerlebnis von innen betrachtet:

Wir haben Valhal bei den Spieleabenden der Dice & Mystics mehrfach und eingehend getestet: Zu uns kommen Leute, die einen schönen, entspannenden gleichzeitig anregenden Abend mit guten Brettspielen  verbringen wollen. Solche Gäste setzen sich nur an den Tisch, wenn das neue Spiel attraktiv aussieht und ein tolles abwechslungsreiches Spielerlebnis erwarten lässt. 

Den optischen Test besteht Valhal sofort: Kaum ist die Schachtel geöffnet, ist gleich Interesse da. Das Artwork gefällt unmittelbar, besonders einigen ausgesprochene Fans der Wikingerkultur, welche die große Sorgfalt der Gestaltung bewundern.  Sie genießen es sichtlich, dass die kühnen Seefahrer des Nordens, welche sie so faszinieren, hier nicht nur relativ beliebige Requisiten und  Versatzstücke sind. Während der folgenden Spielrunde kommt es immer wieder zu Kommentaren und Beobachtungen über die realen Nordmänner, ihre Charaktere und ihre Lebenswelt; das Spiel weckt Interesse und Verständnis.

An Spielern ist  kein Mangel. Der Aufbau dauert ein bisschen. Die Angabe des Verlags kommt aber ziemlich genau hin. Gut Ding will Weile haben. Geduldig und erwartungsvoll lernen wir gemeinsam die Regeln zu der beeindruckenden Menge an Komponenten. Was zunächst ein wenig kompliziert schein, geht dann insgesamt doch erheblich schneller als erwartet!  In der ersten Runde stehen die Regeln noch im Vordergrund, aber alles klappt problemlos und flüssig: Hinsetzen, losspielen, Spaß haben.

Die erste Viking-Fahrt lässt sich recht leicht bewältigen, obwohl kein Erfolg garantier ist. Alle in unserer ersten Testrunde machen Beute, alle Mannschaften kamen heil wieder heim. Die Jarls sind happy. Erste Bauprojekte beginnen im Winter. Schon bei der zweiten deutlich schwierigeren Vikingfahrt „sitzen“ die Regeln und auch das Kampfsystem muss nicht mehr erklärt werden.

Im nächsten Sommer aber es wird klar, dass die erste Fahrt mit den leicht einzunehmenden Dörfchen Tutorial-Charakter  hatte.  Das ist praktisch. Es fühlt sich natürlicher an, die steile Lernkurve gleich innerhalb des eigentlichen Spiels zu durchlaufen, statt eine vorbereitende Übungsrunde außerhalb absolvieren zu müssen. (Bei späteren Spielrunden genügte es, einen ganz neuen Mitspieler nur kurz über die „Sachlage“ zu instruieren, der Rest erfolgte parallel zum Spielverlauf durch kurze Erklärungen seitens der inzwischen gut eingespielten Jarls  und Learning by Doing. Das funktionierte tatsächlich super!)

Im weiteren Spielverlauf stellt sich heraus, dass es gar nicht so leicht ist, seine Gebäude rasch genug fertig zu stellen und ihre Vorteile zu nutzen, wenn man zuvor den weniger beutereichen aber dafür sicheren Weg geht. Zwei Erkenntnisse stellen sich ein. Erstens: Valhall belohnt das Risiko, nicht den sicheren Weg. Zweitens: Ein kleiner Fehler in der Planung zieht gnadenlos Konsequenzen nach sich. Das ergibt auch Sinn: Die Lebensverhältnisse in der Wikingerzeit ließen keine Fehler zu. Man muss also ganz schön geistesgegenwärtig sein. Plant man seine Beutezüge zu kurzsichtig oder legt man nicht genügend Vorräte für den Winter an oder erbeutet zu viel von den falschen Dingen, gibt es handfeste Probleme. Gewonnen oder nicht – alle haben Spaß und wollen das nächste Mal weiter spielen.

An den folgenden Spieletreffs mit denselben Teilnehmern haben alle erkannt, wie der Hase bzw. Rattatöskr läuft. Niemand greift  naiv und unbedacht die harmlosesten Dörfer an, die Bautätigkeiten, Ressourcen und Vorratshaltung werden vorausschauender und umsichtiger geplant, deutlich mehr Schiffe und Mannschaften gehen auf Fahrt, das Spiel wird ereignisreicher, schneller und noch flüssiger und wer dieses Mal siegen oder verlieren wird, bleibt lange offen. Am Ende jubelt alles neidlos dem Sieger zu, aber – man sieht es den Gesichtern an – es werden Entschlüsse gefasst, es nächstes Mal wieder anders und noch besser zu machen und selbst die Gunst der Götter zu gewinnen. So muss es sein!

Abschließendes Urteil:

Wäre nicht dieser kleine Geweihträger hier, hätten wir möglicher Weise dieses spannende Spiel erst etwas später gesehen, aber ein Blick um die Ecke, die kleinen Augen blitzten uns kess von schräg unten  entgegen – und es war sofort um uns geschehen! Wir waren eingefangen!

 Dieser Kleine ist der Götterbote der Asen, der aus der Höhe herab und den Stamm der Weltesche herunterhuscht und unseren verkaterten Wikingern die harsche Nachricht der verärgerten Chefetage überbringt. Für das Spiel selbst wird diese ungewöhnlich attraktive Figur nicht benötigt, aber auf ihn verzichten? Auf keinen Fall!

Der Götterbote, fein gestaltete Kunstharzfigur, und geschmackvolle Untersetzer aus Leder mit schön ausgeführten Ornamenten sind die Extras der Sonderausgabe. Aber auch ohne sie ist VALHAL ein ästhetisches Vergnügen.

VALHAL ist nicht nur etwas für’s Auge, es hat auch sonst Substanz. Es verbindet originelle, „organische“ Spiel-Mechaniken mit einer historisch korrekten und realistischen Darstellung  einer beliebten Thematik. Man merkt sehr deutlich, welch echte Leidenschaft und große Sorgfalt in die Erschaffung dieses Spiels investiert wurde. Man hat viele, viele Dinge zu tun und zu erleben und,  obwohl reihum gespielt wird, gibt es keine echte „Downtime“.  

Das von Nele Diehl so überzeugend dargestellte Wikinger-Thema ist nicht Illustration, es wird greifbar und lebendig. Das ist es, was  VALHAL so besonders macht. Auch die steile Lernkurve zu Anfang wird durch die logische und unmittelbar einleuchtende Herleitung der Regeln aus dem Thema selbst erleichtert.

Die vom Verlag angegebene Spieldauer ist ein realistischer Rahmen, wie sich nach mehrerer Spieleabenden zeigt.  Wir bleiben jedes Mal etwa im Mittel, was VALHAL zu einem interessanten  Spiel nicht nur für zuhause sondern auch für einen Game Club macht. Mehrere Spiele hintereinander, auch mit teilweisem Wechsel der Mitspieler, sind gut möglich.

VALHAL spricht verschiedene Spielertypen an, ist unterhaltsam, spielt sich jedes Mal anders und bietet ein ausgezeichnetes Preis-Leistungs-Verhältnis für ein gutes und ungewöhnliches Spiel mit guter Produktionsqualität. Durch seine Länge eignet es sich für erwachsene Gamer, die leichte Erlernbarkeit macht es aber auch etwas älteren Kindern gut zugänglich.                                

Kurz gesagt:

VALHAL hat rundum überzeugt:  VALHAL = Spaß am Spiel auf allen Ebenen! Was will man mehr? Wir sind froh, das Spiel, das jetzt unsere Sammlung bereichert, für uns entdeckt zu haben. „Das könnt ihr öfter mitbringen“, heißt es, und es kommen Fragen nach dem kommenden Kickstarter auf…

(Die Dice & Mystics danken dem Verlag Tetrahedon-Games für die kostenlos zur Verfügung gestellte Kopie ihres Spiels.)

Von: Martina Frohme; Dice & Mystics

                                
                                                            

                                       

                         


                          

Loving The Others – Die Anderen zu lieben

Manche Leute stehen auf „Horror-Spiele“, andere nicht. Geschmäcker sind verschieden, und das ist gut so.

Ich gebe zu, dass ich „Horror-Spiele mag. Neben Fantasy und Science Fiction ist mir das Horror-Thema eines der liebsten. Ich kann gut verstehen, dass manche Spieler kein Vergnügen an diesem speziellen Genre haben oder einerseits zwar Spiele mit leichtem Gruselfaktor o.k. finden, andererseits aber der Meinung sind, dass einige der aktuelleren Spiele deutlich zu weit gehen. Sie finden den Anblick von garstigen Minis, blutigen Standees und Innereien auf dem Spielbrett einfach nur scheußlich sind auch nicht willens, sich so etwas einen ganzen Spieleabend lang anzusehen. Letzten Endes soll ein Spiel Freude machen. Tod, Verwesung und Degeneration nicht gerade spaßig zu finden ist eine vernünftige und gesunde Reaktion. Deshalb ist es auch völlig falsch, andere unbedingt gegen ihre Empfindungen in das Horror-Genre hineinzudrängen oder sie gar – mit erpresserischen Absichten – als Weicheier zu verspotten.

Ist es also irgendwie schräg, Spaß an Horror-Spielen zu haben? Die Antwort ist… kompliziert.

Ich mag Spiele mit übernatürlichen oder Fantasy-Themen, wo man Gespenstern, mythologischen Charakteren, Fabelwesen oder Gestalten begegnet, wie sie z.B. im Werk von H. P. Lovecraft vorkommen. Wenn man mir ein Cthulhu-T-Shirt schenkt, werde ich es tragen. Das heißt nicht unbedingt, dass ich mir selber eines kaufen würde.

„Flavour“ – das gesamte nicht zur Spielmechanik gehörende Drumherum – ist nicht alles, wie manchmal behauptet wird, aber es bestimmt das Spielerlebnis doch entscheidend mit. Es gibt „story driven games”, also solche, die einem bestimmten Erzählstrang folgen, aber es gibt auch Spiele mit Hintergrundgeschichten, wie man sie oft als Einleitungen in Regel-büchern findet und die dazu dienen, Stimmung zu erzeugen, ohne dass sie direkt in die Ereignisse auf dem Spielbrett eingreifen. Sie nehmen aber deutlich Einfluss auf die Einstellungen der Spieler zum Geschehen.

Ich habe Vergnügen an Spielen, deren Faszination sich im gedämpften, flackernden Licht der Gaslaternen des 19. Jahrhunderts entfaltet, und die auf diese Weise den Schatten einer Vergangenheit projizieren, als die Naturwissenschaft noch kaum den Ruf der Scharlatanerie abgelegt hatte und die Trennlinie zwischen Fakten, Aberglauben und Einbildung dünner und durchlässiger war als heutzutage. Solche Spiele geben dem Erlebnis eine historische Komponente, sodass man einiges darüber erfahren kann, wie sich die Weltsicht des 21. Jahrhunderts von der Vorstellungswelt unserer direkten Vorfahren unterscheidet.

Es gibt auch Horror-Spiele, die ich gar nicht erst in die Hand nehmen würde, weil sie sich ausschließlich auf das Horror-Thema als solches konzentrieren, ohne dabei den geringsten Versuch zu machen, einen plausiblen Hintergrund für das Geschehen auf dem Spielbrett zu entwerfen. Sie erinnern mich an Spielfilme, bei denen eine dünne Handlung nur als fadenscheinige Ausrede dient, einen haarsträubenden Special-Effekt an den anderen zu reihen.

Spiele wie z.B. The Others sind ein völlig anderes Kaliber. In The Others stellt man sich im entscheidenden Gefecht den leibhaftigen Todsünden entgegen, dargestellt in wahrlich grauenhaften, abscheulichen Kunstwerken von meisterlicher Qualität. Da hilft kein vorsichtiges Draufschielen von der Seite: Ein einziger kurzer Blick – und das Bild hat sich auf immer und ewig ins Gedächtnis gebrannt. Und dann sind da noch jene Übelkeit erregenden Mutanten, korrumpiert durch den Einfluss des (un)reinen Bösen. Der Punkt ist, dass man sie auch gar nicht mögen soll. Es geht darum sie so abstoßend und hassenswert zu finden wie möglich.

Und genau das ist es, was ich an The Others so schätze: Das Böse wird in keinster Weise romantisiert. Man kann der Anziehungskraft eines Vampirs verfallen, eine morbide Sympathie für Werwölfe entwickeln und sich sogar noch mit einem zombifizierten Lieschen Müller und Max Mustermann identifizieren, aber meiner Überzeugung nach ist es menschlich unmöglich, angesichts der Verkörperungen des Bösen in The Others etwas anderes zu verspüren als Ekel und Abscheu.  Und so ist es auch richtig.  Das Böse bekommt seinen angemessenen Platz zugewiesen. Seine wahre Natur wird aufgedeckt, wo immer es sein hässliches Haupt erhebt. Das Übel, das in ein korrumpiertes menschliches Individuum eindringt oder bereits aus ihm heraus wirkt, ist dargestellt als etwas, das dieses seiner Menschlichkeit beraubt oder sie zumindest  bis zur Unkenntlichkeit deformiert.

Eine Randbemerkung, sozusagen zwischen den Zeilen gesprochen: Es muss für jeden Künstler eine enorme Herausforderung darstellen, ein Kunstwerk zu erschaffen, dessen Anblick und Bedeutung die Betrachter instinktiv abstößt und sie gleichzeitig dazu bringt, es für seine künstlerische Qualität zu schätzen und zu bewundern. Das allein macht The Others in meinen Augen einzigartig. Aber da ist noch mehr.

Einige der spielbaren Heldenfiguren wären in ziemlich jedem anderen Brettspiel die Monstren, die es zu besiegen gilt.  Da gibt es zum Beispiel den riesigen bleichen und gehörnten Koloss namens Thorley und seine genetische Halbschwester Rose, die beide nicht gerade dem üblichen Schönheitsideal entsprechen. Eher im Gegenteil. Roses Tentakeln, die aus ihren Ellenbogen sprießen, jagen mir einen Schauder über den Rücken, und das erst recht, wenn diese Fortsätze Köpfe ausbilden und ein Eigenleben entwickeln. Die dafür verantwortlichen Gene stammen direkt von den „Others”, aber Rose kann diese todbringenden Mutationen ihrerseits auch als ihre ur-eigenste Waffe gerade gegen die „Others“ benutzen. Andere spielbare Charaktere warten gar mit psychischen Deformationen auf.

Solche Charaktere zu spielen und sich mit ihnen zu identifizieren ist nicht einfach. Das Spiel wird abgelehnt, weil die Leute etwas dagegen haben, „Monster” zu spielen, und weil ihnen die Trennlinie zwischen Gut und Böse zu verschwommen vorkommt. Sie würden sie lieber bekämpfen als sich mit ihnen zu identifizieren. Und es stimmt ja auch: Der Gedanke mit ihnen auf Tuchfühlung zu gehen macht einem durchaus Gänsehaut. Allerdings ist dies im größeren Zusammenhang zu sehen: In der Gegenwart einer der Todsünden möchte man im Vergleich dazu nur noch die Augen verschließen, sich in einer Ecke zusammenkauern und vergehen. Wie auch immer man zu diesen „Helden“ stehen mag, der springende Punkt ist: Sie sind gerade noch menschlich genug, dass man die Vorstellung akzeptiert, sie könnten Seite an Seite mit uns kämpfen und der Menschheit in dieser Bedrohung beistehen. Ab hier wird’s philosophisch.

Diese „Monster”, welche man im Spiel als Helden einsetzt, sind wirkliche Kostbarkeiten. Es ist allzu leicht, ihre wahren Qualitäten zu übersehen, wenn man das Spiel auf den Tisch bringt und sich nur auf die Spielmechanik und die bloßen Daten und Werte auf den Charakterkarten konzentriert.

Es ist schade, dass die meisten Spieler nicht in den Genuss der wunderbar geschriebenen Hintergrund-Stories kommen, die das Spiel illustrieren sollen: Die Kickstarter-Ausgabe enthält ein Artbook, das einen sehr facettenreichen Einblick in das Gesamtkonzept des Spieles The Others und seiner Kreaturen entfaltet. Darunter finden sich literarische Erzählungen, in denen man näher mit seinen spielbaren Charakteren vertraut wird, besonders mit den nicht ganz menschlichen. Zugegeben, gerade mit solchen Charakteren hatte ich anfangs auch meine Probleme. Aber diese Kunstgeschöpfe sind weit mehr als Plastik mit Lebenspunkten.

Das erste, was man über sie erfährt: Ihre DNA ist teils menschlich, teils DNA der „Others“. Sie sind dadurch physisch „korrumpiert” bis zu einem Grad, in dem ein Spieler eine starke Abneigung dagegen empfindet, sich mit ihnen zu befassen. Sie sind keine Helden wie Superman, selbst wenn sie übermenschliche Kräfte entwickeln wie Thorleys phänomenale Kraft oder Roses Fähigkeit, willkürlich die Zeit zu verlangsamen, wenn sie sich bewegt. Sie wurden von den Agenten des Bösen genetisch designed um in unserer Welt Dimensions-Tore für die „Others” zu öffnen. Stattdessen schrecken sie instinktiv zurück als sie ihre Schöpfer das erste Mal erblicken. Sie ergreifen zusammen die Flucht, helfen und beschützen einander so gut es eben geht. Und sie versuchen auch all jene zu beschützen, die schwächer sind und ihnen offen und  freundlich begegnen, und das bis hin zur Selbstaufgabe. Sie kamen körperlich voll entwickelt auf die Welt, abgesehen davon sind sie aber praktisch noch unreife, pubertierende Kinder, die sich mit bisher ungekannten verwirrenden Empfindungen herumschlagen, die Welt der  Erwachsenen zu begreifen versuchen und gerade erst beginnen, ihre eigenen Fähigkeiten und Kräfte zu erkunden. Sie leiden unter ihrer jeweiligen Andersartigkeit in genau der gleichen Weise wie z.B. der Incredible Hulk. Selbst menschliche Gebrechen sind ihnen nicht fremd: Thorley braucht eine Lesebrille. Zum Lesen.

Sie identifizieren sich mit ihrer menschlichen Abstammung und empfinden Abscheu vor den „Others” genau wie wir auch. Sie lieben Seifenopern, verdrücken mit Vorliebe Fish & Chips, mögen Brettspiele – Thorley spielt leidenschaftlich gern Schach! – und gehen in die Kneipe an der Ecke, weil sie dort normale Leute treffen können. (Oder weil dort Bier und Schnaps ausgeschenkt werden? Weit gefehlt! Sie sind doch noch Kinder!) Sie sehnen sich nach nichts so sehr wie nach einem „normalen Leben“, und dabei haben sie eine recht naive Vorstellung, was das eigentlich ist: Ihr ganzes Wissen stammt aus Bruchstücken von Fernsehsendungen, die sie im Laufe ihrer Flucht aufgeschnappt haben. Sie leiden darunter, anders zu sein, und verbergen ihre körperlichen Absonderlichkeiten unter Kapuzen oder langen Ärmeln, um nicht aufzufallen und ihre „Mitmenschen“ nicht zu verstören oder zu ängstigen.

Als Zeugen der völligen Vernichtung, welche die „Others” über die Kleinstadt Haven gebracht haben, fühlen Thorley and Rose plötzlich tiefes Mitleid mit all den „armen Menschen“ und beschließen, sich dem Widerstand anschließen, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt. Sie haben einen gemeinsamen Feind, und sie fühlen sich zu den schwächeren Menschen ebenso hingezogen wie von den „Others“ abgestoßen. Es ist eine rationale, „aufgeklärte” Reaktion auf die unmittelbare Erfahrung von Verderbtheit, Gewalt und Zerstörung, und folgt völlig dem Kategorischen Imperativ des großen Philosophen Immanuel Kant. Die „Others” aufzuhalten und die Menschheit vor ihnen zu schützen wird ihnen zum Selbstzweck.

Ich zitiere hier nach der englischen Ausgabe von Wikipedia: „Nach Kant haben Menschen eine Sonderstellung innerhalb der Natur inne, und der Grundsatz ihrer Sittlichkeit kann in einem Imperativ, einem ultimativen Gebot der reinen Vernunft,  zusammengefasst werden, von welchem sich alle Pflichten und alle Verantwortung ableiten. Er definiert einen Imperativ als jede Art von Gebot, welches eine bestimmte Handlung (oder Nicht-Handlung) für unbedingt notwendig erklärt.“ Man könnte sagen, das macht Thorley und seine Schwester wirklich menschlich, und zwar ihrem inneren Wesen nach, ungeachtet ihrer Biologie: Sich mit den „Others” zu verbünden ist für sie schlicht keine Option, denn das Böse mit all seiner Zerstörung erscheint ihnen sinnlos und unvernünftig. Sie handeln ganz nach Kants oft zitiertem Kategorischen Imperativ: “Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Dass sie dabei sogar bereit sind, ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen, zeigt eine solche Abstraktheit und Reinheit ihrer Motive, dass man verblüfft ist, dergleichen in einem bloßen Brettspiel-Kosmos anzutreffen. Das macht sie noch nicht zu Heiligenfiguren: Sie finden sich schlichtweg nicht damit ab, einfach benutzt und nach Gebrauch entsorgt zu werden. Sie wollen als Individuen mit eigenem Willen, Gewissen und Würde behandelt werden. Und dennoch haftet ihnen unleugbar eine moralische Bedeutung an: Sie sind, den meisten Definitionen des Begriffs zu Folge, Beispiele für das (machbare) Gute.

Hatten die Spielentwickler wirklich Kant im Sinn? Wollten sie eine philosophische Lektion in ein Brettspiel verpacken? Sicher nicht. (Obwohl – zutrauen würde ich es ihnen schon.) Aber sie existieren in einem kulturellen Umfeld in dem, lange nach Kant und seinen Zeitgenossen, die Philosophie der Aufklärung noch gegenwärtig und wirkkräftig ist. Alles in allem finde ich dies doch ziemlich beruhigend.

Es wird Zeit eine frühere Aussage neu zu formulieren: Solche Charaktere zu spielen und sich mit ihnen zu identifizieren ist nicht einfach, aber es ist eine Übung in Toleranz. Man lernt diese Charaktere zu akzeptieren wie sie sind, ungeachtet ihrer Abstammung, ihrer Monstrositäten, Beschränktheiten und Abweichungen, und zwar auf Grund ihrer Einstellungen und tatsächlichen Handlungen. Wir werden selbst zu besseren Menschen, indem wir ihnen gegenüber Menschlichkeit üben.

Aber Moment mal – über was reden wir hier eigentlich? Das sind doch keine echten Personen. Sie sind doch bloß Figuren in einem Brettspiel. Schon richtig – aber warum haben wir dann überhaupt solche Empfindlichkeiten, wenn es darum geht, eine davon zu spielen?  Weil wir uns nun mal mit unserem Charakter im Spiel identifizieren.

Wir wollen in einem Spiel, welches das Monströse so ernst nimmt, kein Monster sein. Wir wollen ganz und gar Mensch sein, und genau das ist der Hintergrund dieser “monströsen” halb-menschlichen Charaktere, ob dies nun ausdrücklich gewollt ist oder nicht. Wir sind uns bewusst, dass der eigene Charakter nicht rein und frei von jeder Bosheit und Verderbtheit ist. Im wirklichen Leben müssen wir uns ständig mit dem auseinandersetzten, was zum Beispiel im christlichen Sprachgebrauch die „Erbsünde” genannt wird, etwas das uns „angeboren“ ist, in unserer Natur liegt, und das wir erst überwinden müssen um zu dem zu werden, von dem unsere jeweilige Religion oder Philosophie uns sagt, es sei unsere eigentliche Bestimmung und Vollendung.

Das Spiel The Others zeigt uns auch, wie schwierig es ist, unsere eigenen Schwächen zu überwinden, wieviel leichter es ist, sich der Hoffnungslosigkeit zu ergeben, wie verlockend, den einfacheren Weg zu gehen und den Versuchungen der „anderen Seite“ zu erliegen. Es zeigt uns wie schwer es ist, wirklich wichtige Entscheidungen zu treffen: Wir hätten gar keine Chance, wenn wir darauf angewiesen wären perfekt und völlig „rein“ zu sein um “Erlösung” zu erlangen – um in der christlichen Terminologie zu bleiben – und wenn es keine Nachsicht und Vergebung für uns gäbe.

Wie dem auch sei – die Rolle des „Sin player“ in The Others zu übernehmen ist eine schwere Bürde. Eine Todsünde und deren Figur zu spielen ist eine Aufgabe, die nur wenige Spieler ohne weiteres auf sich nehmen möchten. Niemand hat Spaß daran, sich mit einer der „Sins“ zu identifizieren. Deshalb ist dieses Spiel nicht ohne weiteres für jede Spielgruppe geeignet. Um eine Todsünde zu spielen muss man sich strikt an das Regelbuch halten und kann sich nicht einfach entspannt zurücklehnen und den Spielfluss genießen. Man muss eine gesunde Distanz zu seiner Sin-Figur aufrechterhalten. Es gibt da eine feine Linie, welche es nicht zu überschreiten gilt. Ein Sin-Spieler zu sein ist ein Schritt, zu dem ich persönlich nicht bereit wäre, aber eine Person aus der Spielgruppe muss diesen Part zwangsläufig annehmen, und dies sehe ich als durchaus problematisch. Daher kann ich nach wie vor jeden gut verstehen, der keinerlei Begeisterung für The Others entwickelt und nicht mitspielen möchte.